von Dieter Rulff
Zu den ernüchternden Erkenntnissen über das erweiterte Parteienspektrum in Deutschland gehört, dass das Angebot zwar breiter, die Nachfrage aber darob nicht größer geworden ist. Allem Gerede von der Protestpartei „Die Linke“, von ihrer besonderen Attraktivität bei den politikfernen Kreisen der Arbeitslosen und sozial Schwachen zum Trotz ist die Zahl der Nichtwähler keineswegs gesunken. Man mag ihr unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten zugute halten, dass diese ohne sie vielleicht noch stärker gestiegen wäre, beweisen lässt sich das kaum. Vor allem tröstet das nicht über den Umstand hinweg, dass in der Summe der acht Landtagswahlen seit 2005 die Nichtwähler mittlerweile die Hälfte der Wahlberechtigten stellen. CDU und SPD liegen weit abgeschlagen bei 20,8 und 17,5 Prozent und die 5 Prozent (FDP), 4,8 Prozent (Grüne) und 4,2 Prozent (PDS) nehmen sich in diesem Licht betrachtet auch eher kläglich aus.
Eine ernüchternde Erkenntnis in Sachen erweitertes Parteienspektrum ist: Es zeichnete sich bereits seit längerem ab, wurde in seinen Konsequenzen von den Akteuren aber kaum antizipiert. Fast alle sind mit lediglich einer Koalitionsoption in die letzten Wahlkämpfe gezogen, haben zudem andere definitiv ausgeschlossen. Fasst man Parteien als lernende Organisationen, so lautet der Befund für alle, außer einer Ausnahme: mangelhaft.
Parteien als lernende Organisationen?
Bei den Grünen ist der Befund umso gravierender, als nach dem Ende und der Unzufriedenheit mit der rot-grünen Regierungsphase eigentlich eine größere Offenheit und intellektuelle Beweglichkeit zu erwarten gewesen wäre. Doch wurde an tradierten Bündnismustern festgehalten, obgleich die Empirie schon über Monate hinweg eine rot-grüne Mehrheit in Hessen als auch Hamburg als illusorisch auswies und selbst die Linke wissen konnte, dass die Frage einer Zusammenarbeit auf sie zukommen könnte.
Die Grünen in Hamburg haben ohne Aussicht auf Erfolg und jenseits der Stimmung in der Stadt einen Anti- Beust-Wahlkampf geführt, in dessen Licht die nun vollzogene Wende einem Umfallen gleichkommt. Einzig Ole von Beust hat sich in der veränderten Lage taktisch angemessen verhalten. Dass dadurch eine gleichfalls unflexible FDP ins Abseits geriet, dürfte für die Grünen nur ein schwacher Trost sein. Die Grünen in Hessen haben sich mit ihrer Festlegung gegen die Linke in eine Handlungsabhängigkeit zur SPD begeben, die sie, als diese in die Krise geriet, geradezu handlungsunfähig machte.
Differenzen verhandeln
Es kann bezweifelt werden, dass die starre Festlegung einen höheren Wählerzuspruch gezeitigt hat. Augenscheinlich, so ließe sich resümieren, gewinnt unter den Bedingungen eines Fünf-Parteien-Systems nicht unbedingt die Formation, die eine klare, abgrenzende Kontur zeigt, sondern diejenige, die inhaltliches Eigenprofil mit machtpolitischer Flexibilität verbindet. In einem Fünf-Parteien-System kommt es nicht darauf an, wie viel Gemeinsamkeiten bestehen, sondern wie viel Differenzen verhandelbar sind. Das hat natürlich Konsequenzen für die Strategien innerparteilicher Mobilisierung in Wahlkämpfen.
Das Spektrum der Optionen der Grünen hat sich um vier erweitert: die politischen Cross-over Modelle schwarz-grün und Jamaika, das Lagerbündnis rot-rot-grün und, als scheinbar mittlerer Weg, der die Risiken der einen wie der anderen Variante eingrenzt: die Ampelkoalition. Bei der Abwägung der Optionen dürfte die Risikominimierung keine unwesentliche Rolle spielen, ist doch bei der Festlegung auf die ein oder die andere ein existenzbedrohender Verlust an Wählerstimmen möglich. Gleichermaßen kann in Gefahr und großer Not auch der Mittelweg den Tod bringen. Deshalb ist vielleicht hilfreich, die Kriterien zu präzisieren anhand deren man die Optionen beurteilt:
Die Mehrheit „links von der Union“, die Willy Brandt mit Blick auf die Grünen nach der hessischen Landtagswahl 1982 beschwor, ist seit Beginn der rot-grünen Regierungszeit relativ konstant geblieben. Sie konnte die 42,7 Prozent der Wahlberechtigten, die sie zu Beginn der Regierung Schröder hinter sich vereinigte im Großen und Ganzen auch 2005 halten. Die politischen Lager haben sich auch in den Landtagswahlen danach nicht sonderlich verschoben. Rot-rot-grün hat sich keinesfalls als die Zugewinngemeinschaft erwiesen, die die Rede vom gesellschaftlichen Linksruck nahe legt.
Wechselwähler als Potenzial
Die Konstanz der Lager bedeutet unter den veränderten Bedingungen allerdings, dass für die sogenannten bürgerlichen Parteien ein Zweierbündnis nach wie vor eine realistische Option ist, wohingegen Rot-grün alleine keine Machtperspektive mehr besitzt. Gleichwohl bleibt die SPD für die Grünen auch in einem Fünf-Parteien-System eine herausgehobene Bezugsgröße, befindet sich zwischen den beiden Parteien doch das größte Potenzial an Wechselwählern. Auch deshalb ist es angesichts der anhaltenden Krise der SPD nicht unerheblich, wie sich die Grünen positionieren.
Diese Verschiebung des Optionsraumes zu Gunsten der Union ist die parteipolitisch gravierendste Konsequenz des Fünf-Parteien-Spektrums. Ein Zweierbündnis zu sein ist eine der Attraktivitäten einer schwarz-grünen Koalition, die sie von einer Jamaika-Koalition, aber auch von einem rot-rot-grünen Bündnis abhebt. Die innere Dynamik von Zweier-Konstellationen ist leichter zu steuern, die Möglichkeit der Eigenprofilierung der jeweiligen Partner über das gemeinsame Regierungsprojekt, aber auch in Abgrenzung zum Regierungspartner ist einfacher, die Gefahr von internen Blockaden geringer.
Solche Erwägungen sind allerdings nach wie vor eingebettet in die Lagersystematik des deutschen Parteienspektrums, die durch die Fünfer-Konstellation nicht aufgehoben wird. Nichts wäre törichter, als die tradierten gesellschaftlichen Zuordnungen zu missachten. Das bedeutet aber nicht, dass man ihnen blind folgend nur Lagerbündnisse favorisieren sollte, dass diese die größere Aussicht auf Erfolg bergen.
Markenkern Ökologie
Die Rede von den größeren programmatischen Gemeinsamkeiten der drei linken Parteien verdeckt die Tatsache, dass zumindest zwischen zweien von ihnen ein erhebliches Spannungsverhältnis besteht und weiterhin bestehen wird. Die Partei „Die Linke“ (PDL) ist (im Gegensatz zur Vorläuferin PDS) „Fleisch vom Fleisch der Sozialdemokratie“, ihr Aufstieg ist mit deren Niedergang verbunden.
Auch die Grünen wurden lange Zeit von der SPD als „Abspaltung“ betrachtet, doch ist ihr Markenkern Ökologie mit dem sozialen der SPD kompatibel. Die PDL hingegen ist erfolgreich, weil sie frühere Sozialstaatspositionen der SPD gegen diese wendet, sie ist groß geworden als Lautsprecher des innerparteilichen Unmutes mit der Schröderschen Politik der Neuen Mitte. Sie hat in der SPD unter Kurt Beck eine Dynamik freigesetzt, die zu einer Revision der Agenda 2010 und der Öffnung zu einer Zusammenarbeit beider führte. Beides hat die Krise der SPD nicht beendet sondern verlängert und womöglich vertieft. Diese Krise würde die Zusammenarbeit in rot-rot-grünen Bündnissen prägen.
Auch die Grünen konnten und können sich erkennbar der Linksdrift nicht entziehen und alle Verweise auf den (Rechts-) Populismus Oskar Lafontaines oder das chaotische Erscheinungsbild seiner Truppe sind eher hilflose Versuche einer Abgrenzung, die man auf dem 2009 wahlentscheidenden Feld des Sozialen nicht formulieren kann. Genauso hilflos wie diese Abgrenzung sind die Versuche, die fehlende eigene Kontur auf sozialpolitischen Reißbrettern zu entwerfen oder aus Wertedefinitionen zu filtern.
Die Grünen - sozialpolitisch schwach
Die Grünen haben, selbst nach sieben Regierungsjahren, in der öffentlichen Wahrnehmung ein schwaches sozialpolitisches Profil. Da sie ihre (Wechsel-) Wählerschaft vornehmlich mit der SPD teilt, ist das ein entscheidendes Manko.
Die Grünen haben sieben Jahre lang Sozialpolitik mitgestaltet, an der Weiterentwicklung der Ergebnisse dieser Politik werden sie gemessen. Begeben sie sich in den verteilungspolitischen Wettbewerb von SPD und PDL, wie es sich auf dem Nürnberger Parteitag bereits andeutete, können sie ein Eigenprofil nicht kenntlich machen. Orientieren sie ihre Sozialpolitik an einem erweiterten Begriff der Nachhaltigkeit, der gleichermaßen Schuldenabbau und einen Vorrang von Zukunftsinvestitionen in Kinder und Bildung, Forschung und ökologische Innovationen vor konsumtiven Sozialausgaben bedeutet, macht sie das in einer rot-rot-grünen Konstellation kenntlich – und für jene Anhänger der SPD attraktiv, die dem Linkstrend ihrer Partei reserviert gegenüberstehen.
Doch ein solcher Mittekurs ist mit Risiken behaftet: Am Ende von sieben Jahren rot-grüner Politik der „Neuen Mitte“ (nicht allein als deren Ergebnis) ist diese Mitte sozial geschrumpft, haben Armut und prekäre Beschäftigungsverhältnisse eklatant zugenommen. Das lässt nicht nur die Versprechen von einst in einem schalen Licht erscheinen. Auch wenn die Grünen als die Partei der Gebildeten und Gutverdienenden gelten, dürfte die soziale Verunsicherung, die Angst vor Abstieg, auch ihre (Wechsel-) Wählerschaft erreicht haben. Darauf ohne unhaltbare Sicherheitsversprechen zu antworten, ist die Herausforderung.
Die Neue Mitte schrumpft
Diese Antwort zu finden ist in einem schwarz-grünen Bündnis gleichermaßen erforderlich. In einer solchen Koalition wären die politischen Lagerzuordnungen nicht aufgehoben, die Grünen würden weiterhin als eine linke Partei angesehen werden und der mit ihr möglicherweise einhergehende Vorwurf des Machtopportunismus wäre nur zu entkräften, wenn die inhaltliche Positionierung vorab klar ist, und nicht allein über Bündnisaussagen erfolgt.
Zugleich ist es diese Antwort, welche die perspektivische Annäherung beider Parteien begründet. Denn auch die CDU ist auf der Suche nach ihr. Ihr Milieu ist in einem ungleich größeren Maße von den Fragmentierungs- und Deklassierungstendenzen der Gesellschaft betroffen als das der Grünen. Ihre programmatischen Antworten darauf waren zu rot-grünen Regierungszeiten angebotsorientierter als die der Grünen. Der politische Schwenk, den sie in den letzten Jahren vollzogen hat, ist von daher ungleich größer. Dass sie ihn ohne erkennbare innere Krisen vollzogen hat, zeugt von einer Stärke ihrer Führung. Die Offenheit der Union für schwarz-grüne Bündnisse ist nicht allein das machttaktische Kalkül, als welches es mancher Opponent gerne denunziert. Es basiert zum einen auf dem Bedeutungsverlust des ideologischen Konservativismus bundesrepublikanischer Prägung innerhalb der CDU, der habituell die größte Schranke zwischen den beiden Parteien markierte, es basiert vor allem aber auf der Neutarierung des Verhältnisses von wirtschaftlichen Interessen und gesellschaftlichen Erfordernissen. Daraus ist allerdings noch kein neues Modell christdemokratischer Politik erwachsen. Es ist das Unbehagen an der sozialen Erfolglosigkeit der eigenen früheren Programmatik, das Unbehagen an den „Fehlentwicklungen“ des bis vor kurzem verfochtenen Wirtschaftsliberalismus, das die Union auf einen „dritten Weg“ zusteuern lässt.
Der dritte Weg der CDU
Während die CDU solchermaßen eine Partei auf der Suche ist, lebt die FDP davon, sie an die Einhaltung der ehedem gemeinsam geteilten angebotsorientierten Positionen zu gemahnen. Wie ihre Wahl- und Umfrageergebnisse zeigen, leben die Liberalen noch recht gut davon. Sie haben in der Ära Westerwelle den Wirtschaftsliberalismus konsequent zu ihrem Kernthema ausgebaut – neben ihm gibt es keinen anderen Markenkern, neben Westerwelle gibt es keine Führungsperson, die für einen anderen programmatischen Aspekt steht. Eine Änderung der Richtung wäre mit existenziellen Risiken und einer Personaldebatte verbunden.
Entgegen der am Staatsverständnis orientierten Einordnung der FDP in der parteipolitischen Mitte bewegt sich diese auf den entscheidenden Feldern der Wirtschafts- und Sozialpolitik seit Jahren am (bei aller Schwierigkeit der Verwendung dieses Attributes auf diesem Feld) rechten Rand. Diese Felder sind auch für die Bewertung gelb-schwarz-grüner und gelb-rot-grüner Dreierkonstellationen entscheidend. Gemessen an diesen Differenzen treten Gemeinsamkeiten in der Innen- oder Integrationspolitik in den Hintergrund, auch sind die Differenzen der Lebenswelten zwischen Grünen und Freidemokraten größer, als zwischen Grünen und Christdemokraten. Während erstere sich gerne jenseits der Grenze der Distinktion wähnen, durchzieht letztere sozial und programmatisch die Grenze der Respektabilität.
Wahlen werden in der Mitte gewonnen
Diese sozial-kulturelle Differenz zur FDP würde auch SPD und Grüne einen, sollte es zu einem gemeinsamen Bündnis mit der FDP kommen. Sozial- und wirtschaftspolitisch hätte die SPD womöglich gar größere Schwierigkeiten mit den Liberalen.
Sollte es zu schwarz-grünen Koalitionen kommen, würde sich die Wettbewerbsposition der FDP erheblich verschärfen. Es wäre ein Verlust christdemokratischer Zweitstimmen zu erwarten und die Frage, welche der beiden kleinen Mitte-Parteien die Nase vorn hat, hätte mehr als nur symbolische Bedeutung.
Wahlen wurden bislang immer in der Mitte gewonnen, was nicht heißt, dass die Parteien in der Mitte immer gewinnen. Wenn die Grünen diese Position einnehmen, würde es ihnen Optionen eröffnen, zugleich aber auch Anhänger verschrecken, die sich und die Grünen eindeutig links verorten. Es wäre ein Vorgehen mit Risiko. Es würde von Teilen der Partei ein Umdenken und von ihrer Führung programmatische Klarheit, strategisches Geschick und einheitliches Handeln verlangen.
Dieter Rulff lebt als freier Journalist in Berlin. Er arbeitet für verschiedene Printmedien und den Hörfunk und ist verantwortlicher Redakteur der gesellschaftspolitischen Vierteljahresschrift „vorgänge“. Er war jahrelang Redakteur bei der „tageszeitung“ und der Wochenzeitung „Die Woche“. Er ist Mitglied der Grünen Akademie.